Brief an die Bundesvorsitzenden BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN

Brief and die Bundervorsitzenden Bündnis 90 / Die Grünen

Anlässlich eines Artikels in der Zeit vom 15.10.2020 hatten wir den Bundesvorsitzenden folgenden Brief geschrieben (der unbeantwortet blieb):

Im Oktober 2020

An die Bundesvorsitzenden
von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Frau Annalena Baerbock
Herrn Robert Habeck

Ihr ZEIT-Online-Gastbeitrag vom 15.10.20: „Nur ein geschlossenes Weltbild kennt keine Widersprüche“

Sehr geehrte Frau Baerbock, sehr geehrter Herr Habeck,

in Ihrem Gastbeitrag bei ZEIT-Online würdigen Sie zu Recht die Leistungen, die die grüne Partei in den vierzig Jahren ihres Bestehens erbracht hat. Dazu zählt, dass die Grünen die ökologischen Themen in der Mitte der Gesellschaft verankert und viele Fortschritte zur Schonung der Umwelt und für die gesellschaftliche Vielfalt in die Wege geleitet haben. Zu den praktischen Erfolgen der Grünen haben Sie sich in dem Gastbeitrag nur zurückhaltend geäußert, denn Ihr Fokus lag auf anderem Gebiet: Die Grünen haben – wie vielleicht keine andere Partei – unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen integriert, Widersprüche ausgehalten und „aus Spannung Stärke“ gewonnen. So, wie die Realität voller Widersprüche ist, so haben die Grünen „sich gegeneinanderstehenden Positionen (gestellt)“, und sie hatten und haben den Willen, „dann zu entscheiden und Kritik auszuhalten“.

So weit, so gut. Richtig ist sicherlich auch die Aussage: „Was aus Sicht der Wissenschaft nötig ist, um die Klimaerhitzung zu stoppen, und was gesellschaftlich möglich, lässt sich nicht einfach zusammen-bringen.“ Da hilft kein geschlossenes Weltbild, sondern hier beginnt Politik, und für Veränderungen braucht es in der Demokratie Mehrheiten.

Dennoch greift Ihre Analyse u.E. zu kurz. Die Klimakrise, die bei Erreichen der Kipppunkte in acht Jahren zur Klimakatastrophe werden kann, erfordert „aus Sicht der Wissenschaft“ jetzt ein Umsteuern auf allen klimarelevanten Politikfeldern. Die Aufgabe ist gesellschaftlich nicht einfach, sondern schwierig und hat dabei historische Bedeutung. Aber bemühen sich die Grünen, einen Plan aufzustellen, wie die Klimakatastrophe abgewendet werden kann? Welches Bündel an Maßnahmen ist – bei Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse – notwendig, um alle politischen Entscheidungen dem Primat der Pariser Klimaziele zu unterstellen? Und wie kann ein sozialer Ausgleich für prekäre gesellschaftliche Gruppen geschaffen werden?

Insgesamt entsteht bei Ihrem ZEIT-Online-Text der Eindruck, als wäre die Dimension der Klimakrise auch bei den Grünen noch nicht vollends verstanden. Der IPCC-Report 2018 sagte für das Jahr 2100 bei angenommenen +3° C Erderwärmung voraus:  „Die Welt, wie sie 2020 war, ist nicht mehr erkennbar“ (Kapitel 3, S. 280-281). Hierbei geht es um Wasser- und Nahrungsknappheit, auch in Mitteleuropa, und Massenmigrationen ungeahnten Ausmaßes. Neueste Studien von 2020 zeigen, dass derzeit bis zu +5°C realistisch sind. Und vielleicht ist Ihnen bekannt, dass die IPCC-Prognosen bzgl. der derzeitigen Folgen des Klimawandels genau zutrafen (z.B. Australien, Kalifornien).

Angesichts der realen Bedrohung muss ein Ruck durch die Gesellschaft gehen, wenn wir die guten Lebensbedingungen der Menschheit auf diesem Planeten einigermaßen erhalten wollen. Und es braucht eine Partei mit einem Plan, welche politischen Maßnahmen der Ruck bewirken soll. Wenn die Grünen sich nur in Trippelschritten bewegen, wie Robert Pausch schrieb, dann stabilisiert Ihre Partei das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das in die Klimakrise geführt hat. Sie selbst tragen dann dazu bei, dass die notwendigen schnellen Änderungen, die die Klimawissenschaftler*innen fordern, nicht kommen werden.

Sie loben an der grünen Partei ihre Kraft, „unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen zu inte-grieren“. Aber sind diese unterschiedlichen innerparteilichen Strömungen laut Mehrheitsmeinung der Parteimitglieder gleichwertig? Oder würde die Parteimehrheit sich hinter Vorsitzende stellen, die den entschiedenen Kampf gegen die Klimakatastrophe als die historische Aufgabe der Grünen antreiben?

Die Meinungsumfragen und das Verhalten der grünen Spitzenpolitiker machen ein schwarz-grünes Bündnis nach der Bundestagswahl 2021 wahrscheinlich. Braucht es deswegen bereits vorher CDU-kompatible politische Ankündigungen? Die Grünen würden sich damit selbst verzwergen, wie in Hessen. Im Gegenteil müssen Sie u.E. von Ihrem möglichen Koalitionspartner mehr fordern.

Bei einem grünen Plan für die notwendige schnelle klimapolitische Wende (mit sozialer Ausgewogenheit!) werden viele Wähler*innen mitziehen. So setzen Sie die anderen Parteien im Hinblick auf die Pariser Klimaziele unter Druck! Wollen die anderen wirklich das Business-as-usual fortführen und allenfalls in kleinen Schritten reformieren? Wollen die anderen Parteien auf die ewig gestrigen und auf die zaghaften, auf den Besitzstand versessenen Wähler setzen? Haben sie keinen Mut, sich der realen Klimagefahr zu stellen, und trauen sie auch ihren Wähler*innen keinen Mut zu?

Ihre Ansage sollte sein: „Eine Koalition mit den Grünen ist nur zu haben, wenn Ihr Koalitionspartner in puncto Klimaschutz über seinen Schatten springt.“ (Die Kompromissfindung als politisches Handwerk kommt dann immer noch früh genug.)

In einer laufenden Koalition kann ein zwei Jahre alter Koalitionsvertrag (Hessen) nicht in Stein gemeißelt sein, wenn inzwischen das Ausmaß der Klimakrise immer deutlicher geworden ist. Hat die Fridays-for-Future-Bewegung keinen Einfluss auf die grüne Politik? Wenigstens müssen die hessischen Grünen von der CDU Klimakompensationen fordern, weil die Klimasünde der Waldrodung heute weitaus schwerer wiegt als vor zwei Jahren gedacht. Darin liegt weder ein Rechtsbruch noch beschädigen die Grünen die Demokratie. Außerdem kann der Ruck zu einer konsequenten grünen Klimapolitik bedeuten: Eine nicht reformierbare Koalition kann man kündigen.

Vollends unverständlich ist es, wenn grüne Regierungspolitiker*innen einem neoliberalen Projekt der EU-Kommission Vorschub leisten.  Landesregierungen mit grüner Führung (Baden-Württemberg) oder Beteiligung (Hessen, Hamburg) wollen allem Anschein nach dem Investorenschutzabkommen CETA zustimmen, dass die Klimakrise durch neue Schadensersatzansprüche und die Sondergerichtsbarkeit für Investoren irreversibel befeuern wird! Und grüne Bundespolitiker*innen decken mittlerweile diese Haltung. Auch angesichts der CETA-Ablehnung in fast allen bisherigen Wahlprogrammen und Parteibeschlüssen (Ausnahme Hessen): So zerstören die Grünen ihre Glaubwürdigkeit!

Die Bestrebungen, eine Klimaliste für die baden-württembergische Landtagswahl aufzustellen, sind die passende Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

Parents for Future Heidelberg